Bethlehem 2.0

Bethlehem 2.0

December 03, 2023Heike Felber

Der eisig über die baumlose Ebene wehende Wind lässt die vor dem Stall von Bethlehem stehenden Hirten die Hände reibend von einem Fuss auf den anderen treten. Silbern glänzt über ihnen der Weihnachtsstern. Darunter schwebend ein himmlisches Engelsensemble. Harfen klimpern, Posaunen tuten, Glöcklein bimmeln, die ersten Takte von Vom Himmel hoch da komm ich her werden gesummt. Jehoel, als Engel des Gesangs der Chorleiter der Seraphim schlägt mit seinem Dirigierstab auf die Dachfrist des Stalles. «Silentium», ruft er, «Ruhe bitte, der Josef kommt.»

    Quietschend öffnet sich die windschief in der Angel hängende Stalltüre. «Ta taaa», setzen die Engel zu ihrem Crescendo an. Die Hirten klatschen in die Hände und werfen ihre Mützen in die Luft.

    Aber, was ist denn mit dem Josef los? Dieser rudert verzweifelt mit seinen Armen und ruft: «Stooooop – anhalten – aufhören.» Das Orchester verstummt, die Hirten gucken verdattert und sammeln ihre Mützen ein.

    Betretenes Schweigen.

    «Hm, hm», räuspert sich Josef und schluckt leer. «Liebe Anwesende …», druckst er herum.

    «Laaauter», rufen die Hirten und halten die Hände hinter die Ohren, «wiiir versteeeh‘n diiich niiicht.»

    «Ich haaabe schleeechte Naaachrichteeen», nimmt Josef einen neuen Anlauf. «Diese lange Reise auf dem Rücken des Esels war für Maria wohl zu viel. Ich vermute, mit der Geburt des Jesuskindleins wird es nichts.» Er zuckt entschuldigend mit den Schultern und verschwindet.

    «Ach nein», klagen die Engel bedauernd, packen ihre Instrumente zusammen und fliegen davon.

Rundherum herrscht vor dem Stall Ratlosigkeit.

    «Das kann der doch nicht machen», grummeln die Hirten. «Da kommt so ein Flattermann, überredet uns, unsere Schafe alleine zu lassen und herzukommen – und nun dies.»

    «Wir sind auch verunsichert», sagt ein greises Paar. «Was wird nun aus unserem Johannchen werden, den wir ihn unseren alten Tagen noch bekommen haben? Schliesslich war vorgesehen, dass er vor IHM herziehend», die Frau deutet mit dem Kopf gegen den Stall, «den Weg bereiten soll.»

    Ein anderer ergreift das Wort und stellt sich vor: «Ich bin Micha, Prophet und habe vor rund 700 Jahren vorausgesagt: Du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda. Aus dir soll der kommen, der in Israel Herr sei. Ich habe gerade mit meinen Prophetenkollegen gesprochen. Mindestens 200, 300 Geschehnisse meinen wir vorausgesagt zu haben und sind mehr als konsterniert, befürchten, künftig für Proleten denn Propheten gehalten zu werden.»

    «Das sind doch Luxusprobleme», enerviert sich eine junge Mutter mit einem Säugling auf dem Arm. «Dank diesem – angeblichen – Missgeschick sind mein Simeönchen und 300 andere Kleinkindern nicht Opfer der Schergen des Königs Herodes geworden.»

    «Liebe Untertanin, aus ihrer Warte betrachtet kann ich ihre Gedanken in gewisser Weise nachvollziehen,» wendet sich dieser, unter einem Baldachin stehend und einer funkelnden Krone auf dem Kopf, an die Frau. «Aber», gibt er zu bedenken, «sie dürfen nicht vergessen, zum Erhalt bewährter gesellschaftlicher und politischer Strukturen müssen hie und da Opfer gebracht, Kollateralschäden in Kauf genommen werden.»

    «Und was wird jetzt aus uns», ruft eine Gruppe Männer, hoch zu Pferd und in Ritterrüstungen. «Kreuzritter und arbeitslos», entsetzen sie sich. «Ein Schande ist das. Oder gibt es Alternativen, für die wir kämpfen können?»

    «Immerhin wären dann auch diese dort nicht gekommen, wenn kein christliches Abendland zu unterwerfen gewesen wäre», sieht einer Positives. Er deutet auf eine Gruppe exotisch Anmutenden mit Turbanen auf dem Kopf und Krummsäbeln in den Gürteln. Es ist Johann Andreas von Liebenberg, Bürgermeister Wiens während dessen zweiten Belagerung durch die Türken.

    Der Anführer der Osmanen, Grosswesir Kara Mustafa Pascha tritt nach vorne. «Ha ha», lacht er, «dann hättet ihr schauen können, wie ihr zu eurem köstlichen Türkentrank gekommen wäret, den ihr noch heute so gerne in euren Kaffeehäusern mit reichlich Schlagobers zu euren Apfelstrudeln mit Vanillessauce schlürft.»

    «Als Pfarrer möchte ich auf die theologischen Komplikationen hinweisen, welche diese neue Situation mit sich bringt», sagt einer in einem schwarzen Ornat von einer Kanzel runter. «Ich hoffe sehr, dass es sich bei dem allem nur um eine temporäre Episode handelt. Sonst», er schüttelt ungläubig den Kopf, «der ganze Heilsplan Gottes käme durcheinander, die ganze Rettung der Menschheit müsste neu gedacht werden. Denn, ohne Weihnacht keine Ostern, ohne Ostern keine Erlösung. Auch nicht vergessen dürfen wir die Folgen für die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen.»

    «Diesbezüglich müssen wir unbedingt eine Lösung finden», fordert Herodes unter dem Baldachin. «Wie wollen wir unsere Untertanen, denen es beschissen geht, bei Laune halten, wenn wir ihnen durch den Klerus keine Hoffnung auf ein glorioses Jenseits machen können?»

    «Im bitte sie, realistisch zu sein», mischt sich ein weiterer in die Diskussion ein. «Das Jenseits ist doch ein Nebenschauplatz, der in einer halben Stunde in einer Kirche, einem Tempel oder wo auch immer abgehandelt werden kann. Das ultimative Weihnachtserlebnis liegt doch im Beschenken unserer Liebsten. Mit Gaben, erstanden in unseren schönen Kaufhäusern. In dem Punkt bin ich bei ihnen Majestät. Weihnachten muss um jeden Preis gerettet werden. Sonst sehe ich schwarz für unsere Wirtschaft. Bedenkt, dass viele von uns die Hälfte ihres Jahresumsatzes mit dem Weihnachtsgeschäft generieren.»

    Schrill wird der Sprechende durch gellende Trillerpfeifen unterbrochen. Fahnenschwenkend betreten Gewerkschaftsvertreter in knallroten und -gelben Gilets die Szenerie. «Ihr Defätismus ist eine Schande», plärrt es aus einem Megafon. «Erst die Finanzkrise, dann Corona, und jetzt soll es angeblich keine Weihnacht mehr geben. Sie schrecken vor nichts zurück, dem Profit zu Liebe uns Werktätige zu drangsalieren. Aber eines sei gesagt. Auch ohne Weihnacht, und gegebenenfalls auch ohne Gott: Wir verzichten auf keinen einzigen, bezahlten  christlich-kirchlichen Frei- oder Feiertag.»

    Am Rand des Geschehens streckt ein weiterer die Hand in die Luft. «Ich bitte darum, in der ganzen Diskussion die Klein- und Kleinst-, die Einmann- und Einefrauunternehmen nicht zu vergessen. Ich beispielsweise biete Kurse zum Schreiben von Weihnachtsgeschichten an. Ich denke, ich muss nicht weiter ausführen, was es für mich bedeuten würde, wenn das hier im Fiasko endet.» Er führt seine beiden, einen Trichter bildenden Hände an den Mund und ruft: «Herr Josef, ich bitte sie eindringlich darum, lassen sie uns nicht im Stich.»

    Quietschend öffnet sich die Stalltüre erneut und Josef erscheint. Der Kursanbieter wird blass und stottert: «Herr Josef, ich bitte sie, ich habe nie an ihrem guten Willen gezweifelt.»

    Josef winkt ab. «Nur keine Angst, mein Herr. Sie alle. Ich habe euch Gutes zu berichten. Ein Mädchen wurde uns geboren! Schwarz – von den Füsschen bis hinter die Ohren.»

Geschrieben von: Hans Peter Flückiger

Webseite: www.geschichten-gegen-langeweile.com

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